INNEN LAND

Einige Anmerkungen zu Sigrid Carls Landschafts-Stillleben im Komödienhaus von Schloss Fantaisie im August 2006

 

Das Schöne ist des Schrecklichen Anfang

Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien

 

Man kommt nicht an

Samuel Becketts Warten auf Godot

 

Am Anfang steht in der künstlerischen Arbeit von Sigrid Carl immer die Versenkung in die Landschaft. Wie eine Landschaft riecht, wie sie sich anfühlt, wonach der Wind schmeckt und natürlich vor allem wie die Landschaft mit den Augen nachgezeichnet und nachvollziehbar wird, das sind wichtige Voraussetzungen für die Auseinandersetzung der Künstlerin mit den Gefilden, an denen sie sich dann in ihren Plastiken ab-arbeitet.

 

Das Initiationserlebnis ihres künstlerischen Schaffens liegt mehr als ein Jahrzehnt zurück: Ein Winterspaziergang im Schnee auf dem fränkischen Jura. Die Schneefläche vor ihr und der Horizont dahinter sind an diesem Tag so angelegt, dass sie einen Farbton haben, und so auch untrennbar eine Fläche bilden. Plötzlich sieht die Spaziergängerin in der Ferne eine winzige Scheune – wie ein Guckloch in eine andere Welt. Der Blick ins Unendliche gerichtet erschien ihr das einsame Bauwerk wie etwas, das man nicht fassen kann. Es stellte sich bei ihr so etwas wie ein Kugel­gefühl ein, ein Moment, in dem man keine Richtung mehr hat, keine Begrenzung, sondern nur die unendliche Weite. Beim näher kommen hatte die Scheune aber auch etwas Befremdliches, ja nahezu Bedrohliches, denn sie wies weder Fenster, noch Türen auf. Wird sie als Heulager oder Gerätescheune genutzt? Was birgt dieses einsame Bauwerk? Der Ort blieb bis heute die Antwort schuldig, und gerade die Nicht-Auflösung macht ihn so spannend und reizvoll. Diese entrückte Situation des einsamen Wanderers in der Winterlandschaft vor der wie vom Himmel gefallenen Scheune bringt Sigrid Carl dazu, erst zu fühlen und dann zu denken, dass sie gerne mit Häusern wie mit dieser einsamen Scheune arbeiten würde.

 

Die Künstlerin schätzt Häuser, die die Natur weit hineinlassen, etwa wenn die großen Fenster bis ganz unten auf den Boden gehen. So reicht der unmittelbare Landschaftskontakt auch in die Behausung mit hinein. Sigrid Carl sucht sich die Häuser, mit denen sie arbeiten will. Sie geht dann immer wieder in diese Häuser hinein, weil sie weiß, dass dann etwas passiert. Was es ist, weiß sie nie vorher. Die Kunst wird dann immer, was der entsprechende Raum in ihrem Kosmos ausgelöst hat: an Inspiration, Phantasie, aber auch an Irritation und Befremden.

 

Die Orte sind für sie zum verweilen und hinspüren. An den Kunstwerken gearbeitet wird dann mit zeitlichem Abstand zu diesen mehrtägigen Ortsterminen im Atelier. Die Örtlichkeiten der Faszination sind allesamt Unikate, die oft nicht zum Kontext passen. Es geht also um Bauwerke, die dem Reihenhaus diametral entgegenstehen. Folgende Gebäude waren es in der letzten Zeit: Das älteste Stadthaus in Bad Kissingen aus dem 17. Jahrhundert mit kleinen Zimmern und baufälliger Stiege, für das sie Häuser in faszinierender Kleinheit angefertigt hat. Es war auch kurz danach im Herbst 2005 das Salettl, das ehemalige Gartenhaus des Klosters, westlich von Passau gelegen, in der sich nicht nur eine barocke Wandmalerei findet, sondern auch ein gemalter Himmel an der Decke darüber. Die Häuser, die sie für ihre Ausstellung unter dem Himmel aufgestellt hat, waren aus der Vogels­perspektive zu betrachten – eine hintersinnige Doppelung.

 

Den für Sigrid Carl interessanten Gebäuden ist gemeinsam: Sie stehen so allein, als wären sie vom Himmel gefallen. Sie sind isoliert, haben keinen Kontext, sie haben auch keine Türen und Fenster, sie gewähren also keinen Einblick und bleiben insofern stets rätselhaft. Sie sind greifbar nah und doch ganz fern. Die Kleinodien der Vergangenheit stehen so einsam in der Landschaft, wie man sich auch zwischen vielen Menschen einsam fühlen kann. Wie eine Existenz in der Diaspora oder wie ein Meteorit in der Landschaft: Losgelöst.

 

Während sich die Künstlerin in der Vergangenheit intensiv mit den Gebäuden befasst hat, geraten nun zunehmend auch die Aspekte der Landschaft in ihren Blick: Ein Baum, eine Ansammlung von Bäumen zu einem Wald, eine Böschung oder ein Abhang, ein Feld, ein Weg, ein Bach. Der Boden in der Umgebung von Bayreuth ist historisch aufgeladen. Hier läuft etwa eine Route entlang, die Napoleon mit seinen Truppen Anfang des 19. Jahrhunderts gegangen sein soll. Und meine Feststellung bei der Auseinandersetzung mit den neuen Landschaften von Sigrid Carl war, dass man der Beschaffen­heit des Bodens, der Art des Schwunges diese Vergangenheit anmerken kann. Sie hat also etwas Metaphysisches physisch in ihre Arbeiten gerettet, was im Grunde ein unerhörter Prozess ist. Wenn bei einem Spaziergang durch die Felder der Wind durch die Ähren streicht, dann ist das für die sensible Künstlerin wie eine Berührung und führt dann zu einer Nähe zum Feld, die eine solch tiefe Darstellung ermöglicht. Es gibt eine indianische Weisheit, in der es heißt: Der Indianer ist nur mit dem Mond, wenn er ihn tanzt. Gemeint ist, dass er im innigen Moment des Tanzes der Mond selbst ist. Wenn man diese Erkenntnis auf die unterschiedlichen Untergründe im Werk von Sigrid Carl anwendet, kommt der Betrachter vielleicht zu dem Schluss, dass die Künstlerin im Schaffens­prozess mit dem Boden mitgeschwungen ist. Ohne in diesem Punkt übertrieben psychologisierend sein zu wollen, ist es doch auffällig, wie viel Gefühl in diesen Böden steckt, die dann nüchtern-technisch mit dem Besteck des Chirurgen gezogen sind.

 

Die geborene Coburgerin ist alles andere als eine Medizinerin. Die jungen Menschen zur Kunst zu führen hat sie sich seit vielen Jahren auf die Fahnen geschrieben, auch wenn die eigene künstlerische Produktion dadurch lange Zeit etwas zu kurz kam. Sie studierte von 1976 – 1981 an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Sigrid Carl hat einen Lehrauftrag an der Gutenberg Schule in Frankfurt, wo sie ebenfalls einen zauberhaften Wohnsitz im rauen Gallusviertel hat, lebt und arbeitet aber seit über zwanzig Jahren über viele Wochen im Jahr auf der Burg Zwernitz in Sanspareil bei Bayreuth, wo zwei Wochen nach der Eröffnung in Schloss Fantaisie weitere Arbeiten von Sigrid Carl gezeigt werden.

Das Komödienhaus in der Schlossanlage Fantaisie in der Fränkischen Schweiz in Donndorf bei Bayreuth fällt nur auf den ersten Blick aus dem Rahmen des Carlschen Häuserkosmos’. Von der Markgräfin Wilhelmine wurde das Schloss für ihre Tochter im 18. Jahrhundert erbaut und mit einem herrlichen Garten angelegt. Der Pavillon, auch Komödienhaus genannt, ist in der Anlage etwas versteckt und übt seit vielen Jahren einen großen Reiz auf die Künstlerin aus. Die zehn Fenster dieses Solitärs führen zu besonderen Lichtverhältnissen und ermöglichen es Sigrid Carl, die Arbeiten hinter den Fenstern zu positionieren und abends zu beleuchten. Das Licht kommt von oben hinter den Stuckleisten hervor und beleuchtet die Arbeiten von hinten, so dass sie anregend im Gegenlicht dastehen. Das führt zu einer hohen plastischen Wirkung der Arbeiten, weshalb ein Besuch nach 22 Uhr dringend zu empfehlen ist.

 

Das Komödienhaus verheißt ein komisches Theaterstück, doch von Sigrid Carl werden keine Komödien gegeben. Nachts ist es durch das Licht eine Einladung, doch man kommt nicht hinein. Dies ist das Prinzip der künstlerischen Arbeit, wie es Samuel Beckett postuliert hat: Man kommt einfach nicht an. Weder Godot, noch wir kommen oft an unser Ziel. Vom Komödienhaus gibt es eine nächtliche Anziehung, aber keine Erfüllung. Denn es bleibt für den Kunstbetrachter ver­schlossen. Der Titel der Ausstellung „Innen Land“ meint das Örtliche innen, in einem Raum, beschreibt aber gleichzeitig etwas, das draußen ist – in der Landschaft. In dem Titel schwingt aber auch etwas mit, das in uns Menschen enthalten ist, das sich in uns abspielt. Denn der Mensch hat die Fähig­keit, eine Landschaft emotional in sich hineinzuholen, die dann zu einer Innen-Landschaft wird. Und die Innen-Landschaft übersetzt die Künstlerin dann in ihre Skulpturen, die unter diesem Gesichtspunkt beleuchtet sehr persönlich sind. Vielleicht mag sie auch deshalb den Betrachter nicht zu nah heranlassen, weil sie als empfindsame und auch verletzliche Künstlerin die Nähe der Betrachter zum Werk nicht gut aushalten könnte.

In ihrer Examensarbeit hat sich Sigrid Carl mit der Theorie auseinander gesetzt, „Was ist Landschaft?“ Es gibt nur die Natur, aber keine Landschaft. Landschaft ist sinnlich wahr­genommene und reflektierte Natur. Der Mensch erst konstituiert Landschaft, erst er schafft die Einheit. Und ganz entscheidend: Er wählt den Ausschnitt aus der Natur, der dann zur „Land­schaft“ wird. Je mehr man aber dem Titel der Ausstellung in Anwesenheit der Skulpturen nachspürt, desto klarer wird, dass es der Künstlerin unter dem Strich mehr um innere Landschaften geht, also die Landschaft in uns, die sie über die äußeren begangenen Landschaften beschreibt.

 

Insofern ist der Trickreichtum der Künstlerin ein Doppelter: Wenn man von ihr „Landschafts­stücke“ hört, denkt man zunächst an Bilder wie zum Beispiel Fruchtstücke oder Jagdstücke, wie sie seit der Renaissance eine Tradition haben, aber wir sehen „nur“ Skulpturen. Und dann bilden die Plastiken nicht die Landschaft ab, sondern werden für den Betrachter mit zunehmender Auseinandersetzung innere Land­schaften.

 

„Ein Produkt ist für mich nur dann gut, wenn ich nichts mehr weglassen kann.“ Dieses Wort von Graf Goertz trifft genau auf die Arbeiten von Sigrid Carl zu, der es gelingt, in ihren Plastiken einen bemerkenswerten Verdichtungsgrad zu erreichen. Sie hat immer bildhauerisch gearbeitet, Material abgetragen und nicht geformt. Sie arbeitete mit Gips, mit Stein, nun auch mit Bronze. Es schwebte über diesen Arbeiten meist ein Gefühl der Entfernung, der Verlorenheit im Raum. Seit etwa sechs Jahren hat Sigrid Carl im Kunstharzschaum ihr bevorzugtes Material gefunden, das eben auch inhaltlich so gut zu ihrem Thema passt. Denn es stammt aus dem Gärtner- und Friedhofs­bereich und wird eigentlich nur für Gestecke und Kränze eingesetzt. In der Frankfurter Klein­markt­halle hat sie diesen Werkstoff eher zufällig gefunden und als ideal für ihre Arbeit entdeckt. Der als Steckschaum bekannte Werkstoff hat einen Januskopf: Es sieht weich und kuschelig aus und hat mit den verschiedenen Grüntönen eine harmlose Ausstrahlung. Dieser Schaum ist aber ein böses, extrem empfindliches und nicht ungefährliches Material, wenn man es im trockenen Zustand bearbeitet – was eine unsachgemäße Behandlung ist, denn der Hersteller schreibt vor, das Material vor dem Bearbeiten in Wasser zu tränken, was allerdings nur Sinn macht, wenn man Blumen einstecken möchte. Kunstharzschaum ist also gefährlich und gefährdet zugleich.

Wenn man den Kunstharzschaum als Block begreift, aus dem der Bildhauer seine Skulptur schlägt, dann hat man es mit einem hyperempfindlichen Material zu tun, das leicht kaputt geht und extrem berührungsempfindlich (!) ist. Es gibt schrecklich hohe Töne bei der Bearbeitung ab. Mit Skalpell, Nadeln, feinen Schraubenziehern für Lüsterklemmen und weiteren für diese neue Tätigkeit entwickelten Kleinst-Werkzeugen macht sich die Künstlerin stets bei künstlichem Nachtlicht mit Atemmaske an die Bearbeitung ihres Mikro-Kosmoses, bei dem jede Handbewegung irreversibel ist. Es geht um die Vertiefung kleinster Teile, wie bei einer Modelleisenbahn-Landschaft – allein, es ist bei Sigrid Carl nie gefällig oder niedlich, und alles, was wir in dem bearbeiteten Block sehen, ist aus einem Material. So muss die Künstlerin hochkonzentriert arbeiten, denn was weg ist, ist weg. Beim Bearbeiten entstehen feine Stäubchen, die zwar unsichtbar sind, aber doch beim Einatmen Schaden anrichten können – so ist die Maske eben unerlässlich.

 

Und diese Stäubchen lassen etwa an die Katastrophe von Tschernobyl denken, die mitschwingt, wenn man sich in einige Arbeiten vertieft. Als wäre eine Atomgiftwolke über einige Arbeiten geschwebt. Das Material suggeriert es. Man sieht die Gefahr nicht, aber sie ist da. Ein schönes Gleichnis auch für die Welt, in der wir heute leben. Auch wenn es grün ist und harmlos aussieht: Es ist das Gegenteil von natürlich. Dieses Material zerstört jede Idylle. Und die Künstlerin braucht dieses Material als Ausgleich für ihre malerischen Orte, für diese schöne Krümmung der Land­schaft. Sie sagt: „Ich könnte das Gefühl bei einem romantischen Haus im Wald gar nicht aushalten, wenn das haptisch und auch akustisch schreckliche Material als Ausgleich nicht wäre.“ So wohnt den Arbeiten gleichsam das vorangestellte Rilke-Zitat inne, nach dem das Schöne des Schrecklichen Anfang ist.

 

Das Material, mit dem sie die Landschaft emblematisch nachbildet, aus der sie stammt, ist auch ein passendes Symbol für den Kampf, den sie früher in ihrem Leben gegen die großen Bauern geführt hat, die nicht mit der Natur, wie die kleinen Bauern, sondern von der Natur leben. Ihre Großeltern waren noch Bauern im Fränkischen, und so hat die in Coburg geborene aus nächster Nähe erlebt, was unter dem Stichwort Flurbereinigung alles angerichtet wird: Hecken werden vernichtet, Wege begradigt, Felsen sollten in die Luft gejagt werden. Es wird gnadenlos gedüngt und eine jahrhundertealte Kulturlandschaft innerhalb weniger Jahre zerstört. Es zeigt sich aber heute, dass die Natur stärker ist als alle sprengenden Maßnahmen der Menschen. Die Samen stecken noch im Boden, die Hecken kommen zurück, die Natur ist robuster als jede landschaftsbauliche Maßnahme. Diesen Sieg der Natur zeigt Sigrid Carl auch unterschwellig mit ihren zarten Arbeiten.

Ebenfalls im Sommer 2006 richtet Sigrid Carl eine Ausstellung im Innenhof des Morgen­ländischen Baus neben der Burg ein, in der sie schon seit über zwanzig Jahren viele Monate im Jahr lebt. Diesen kleinen Innenhof, der nicht betreten werden darf, besucht sie regelmäßig, weil er an jedem Tag im Jahr eine andere Wirkung und Strahlkraft hat. In diesem Innenhof mit einer malerischen Buche im Zentrum präsentiert sie ein guten halbes Dutzend witterungsbeständige Bronzegüsse, die im Kontakt mit diesem Ort stehen, die auf diesen Ort hin gestaltet wurden. „Ferne Orte“ ist diese Ausstellung betitelt, und in dieser sorgsam gefundenen Formulierung kommt wieder die Distanz zum Vorschein, die die Künstlerin wahren muss, um sich selbst zu schützen: Man kommt einerseits in den Kunstort nicht hinein – weil der Innenhof verschlossen ist und bleibt – andererseits dringt man aber auch nicht zur empfindsamen Persönlichkeit der Künstlerin vor. Die Bronze im Innenhof macht nun etwas ganz Neues: Das Versteinerte, das die Kunstharzschaum-Arbeiten mitenthalten, wird durch den Guss noch verstärkt. In der Bronze-Plastik kommt ein morbides Element hinein, höchst gefährdet und ans Ende gehend. Es sind existentielle Arbeiten. Die Jahreszeiten sind in diesem auch von hinten einsehbaren Hof verdichtet, die Künstlerin geht sogar so weit, dass sie zu diesem Ort neben der 850 Jahre alten Burg sagt: „Mein ganz persönlicher Caspar David Friedrich, der immer anders, aber stets zutiefst romantisch ist.“

 

Dieser Bezug ist nicht zufällig, mit den Romantikern hat sich Sigrid Carl intensiv auseinander gesetzt. Die literarische und kunsthistorische Strömung, die 1791 auf einer Neckarfahrt von Clemens Brentano und Achim von Arnim begann, ist der Resonanzboden für die Plastiken von Sigrid Carl. Auch ihr geht es um die Pole Nähe und Ferne, Vertrautheit und Fremdheit, auch Verlorenheit und Geborgenheit. Ihren Landschaften wohnt eine melancholische Schönheit, oder besser eine schöne Melancholie inne. Und die Fränkische Landschaft war historisch Nahrung für die Romantiker. Alfred Tschokke etwa hat die romantische Landschaft durchwandert und beschrieben, ein Tschokke-Felsen mit noch heute unvergleichlichem Ausblick findet sich in der Nähe der Burg. Dr. Axel Müller hat in einer Würdigung der Arbeit von Sigrid Carl bereits einleuchtend auf die Anknüpfung ihres Werkes an die „paysage intime“ hingewiesen. Die idyllischen Arbeiten einer „vertrauten Landschaft“ wurden Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich gefeiert.

 

Die Arbeiten von Sigrid Carl zeigen keine konkreten Häuser, Bäume, Felder oder topographische Situationen. Nach den Tagen und Wochen in der von ihr favorisierten Landschaft geht sie in sich (der Blick nach innen geht tiefer ins Sein!) und schöpft aus sich heraus diese Stellvertreter­bäume- und Wälder. Es geht um das Wesen des Baumes oder des Feldes, nicht um deren Identifizierbarkeit. Wir sehen also etwa den Inbegriff eines Hauses oder eines Waldes, der durch den Transport telli dieser stark mit dem Boden verbundenen Künstlerin wie schon der Indianer an der Feldoberfläche ab, wer hindurchging: Der Wind oder der Regen, ein großes Tier oder ein zartes…

 

Spannend bei Sigrid Carl ist immer die Präsentation der Arbeiten, die in manchen Orten wie eine Installation wirken. Sie gehören zusammen und bedingen einander: Plötzlich wird aus den Einzelelementen etwas Geschlossenes, ein gemeinsamer Zusammenhang wird sichtbar. Denn entscheidend ist, wie die Objekte zueinander stehen. Manche Arbeiten stehen nah am Fenster, andere weiter weg: die Künstlerin folgt dabei ihrer Erkenntnis, dass es sehr reizvoll und vollständig anders ist, einen Wald, den sie aus der Nähe kennt, von weitem zu sehen. Oder die Häuser von oben. Die entscheidende Rolle spielt die Raumsituation, auf die sie mit immer neuen Versuchsanordnungen und Skizzen hinarbeitet.

In ihren Arbeiten erzählt Sigrid Carl keine Geschichten. Der Mensch kommt in ihren Land­schaften nicht vor, wir ahnen ihn lediglich zuweilen, wenn wir ein Haus sehen, das menschen­gemacht ist. Und wir spüren, dass die Arbeiten etwas mit uns als Betrachter zu tun haben, etwas, das uns zu fühlen, zu denken oder zu erinnern gibt. Immer schwebt ein Hauch von Verletzlichkeit und Verlorenheit um ihre Land­schaften herum, bei aller Erdverbundenheit, die auf den ersten Blick auffällig ist. Ganz eigen sind ihre atmosphärischen Zwischentöne. An anderer Stelle war einmal von der stillen, stillebenhaften Aura ihrer Arbeiten die Rede, was einen wesentlichen Punkt zu berühren scheint. Ihr gelingt es mit ihren in der Kunstgeschichte einzigartigen Arbeiten, Momente von besonderer Dichte und Strahlkraft wie in einem Einblock festzuhalten und zu bewahren. Und nicht, wie so häufig seit Jahrhunderten, in einem Tableau, sondern in einer filigranen und doch langlebigen Plastik. Es sind gewissermaßen archetypische Urlandschaften, aufgeladen mit Gefühl und Energie. Vielleicht ist es für den Betrachter ihrer Werke eine Intensivierung des Gefühls, das die Arbeiten ausgelöst haben, und auch eine Abrundung der Ausstellung, wenn man nach der Betrachtung eine halbe Stunde mit dem Auto die Strecke über Busbach nach Sanspareil fährt und die Landschaft tief in sich hineinlässt, so wie es die Künstlerin auf ihren Initiations-Gängen durch die Landschaft gemacht hat.

 

Florian Koch, Kurator, Frankfurt am Main, im Juli 2006

 
Katalogtext zur Ausstellung „Innen Land“ im Komödienhaus von Schloss Fantaisie bei Bayreuth, 2006