UNTER FREIEM HIMMEL

Natur als „paysage intime“ bei Sigrid Carl

 

In einer Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe (Das Eiland und die Fee) berichtet der Erzähler über seine langen Wanderungen in der Natur und beschreibt, wie er dabei unversehens auf eine Gegend stößt, die seine Aufmerksamkeit so auf sich zieht, dass er Rast macht, „auf dass ich wachen Auges träumen möge, während ich das Bild vor mir sinnend erwöge. Ich fühlte, dass ich es nur so angemessen würdigen könne – entsprechend dem Charakter der Erscheinung, die es trug.“ Wer kennt diese Erfahrung nicht, die hier der Dichter beschreibt: wachen Auges sinnend zu träumen? Unmittelbar sehen wir etwas, das unsere Aufmerksamkeit fesselt und haben dabei den Eindruck, dass wir zugleich mehr und anderes sehen, als wir hier und jetzt wahrnehmen. Schon die hintergründige Faszination, die das Gesehene ausübt (und die den Dichter zum nachdenklichen Verweilen einlädt), ist ein Indiz dafür.

 

Vielleicht mehr noch als vor und in der Natur machen wir diese Erfahrung eines visuellen Überschusses in der Kunst. Auch die Werke der Plastik oder die Bilder der Malerei stehen ganz direkt, unmittelbar vor uns und ziehen die Aufmerksamkeit auf sich. Sie müssen nicht erst, wie in der Musik eine Partitur oder wie im Schauspiel ein Text, in eine zweite Gestalt überführt werden um zu erscheinen und zu wirken. Skulpturen und Bilder sind unmittelbarer, sie sind schon im flüchtigen Augenblick des Sehens da. Und indem sie da sind, erzeugen sie den Eindruck, dass sie uns mehr sagen, als wir zunächst wahrnehmen, dass in ihnen etwas erscheint, dem wir uns als Betrachter nicht direkt, sondern sinnvollerweise nur ´wachen Auges träumend´ nähern können. Das mag daran liegen, dass die Werke der bildenden Kunst stets einer Verstehensleistung seitens des Betrachters bedürfen, die wiederum der Sprache bedarf, das heiß eines Mediums, aus dem die Werke selbst gerade nicht gebildet sind. Das schafft Distanzen, Dissonanzen und Verwerfungen, macht letztlich das Verhältnis zwischen Sichtbarem und Sagbarem bewusst und damit zum Problem. Wer sich auf die hier ausgestellten Arbeiten der Künstlerin einlässt, kommt um diese Erfahrung nicht herum.

 

Die Künstlerin Sigrid Carl setzt den großkomponierten, historisierenden und klassisch-idealen Landschaften der Tradition den scheinbar vertrauten, nicht zuletzt leicht romantisch getönten Stimmungsgehalt ihrer kleinen, unkomplizierten Naturausschnitte entgegen. Dabei gestaltet sie ihre Plastiken in der einst die Moderne einläutenden Sicht der „paysage intime“ („vertraute Landschaft“). Durch ihre plastische Schilderung einer friedvollen Stimmung in ländlicher Abgeschiedenheit, die mitunter an das klassische Thema der Idylle erinnert, knüpft sie, bewusst oder unbewusst, an die damals in Frankreich durch die Schule von Barbizon entwickelte Form der Landschaftsdarstellung an. Die „paysage intime“ war die Spezialität jener französischen Künstlergruppe, die sich Mitte des 19.Jahrhunderts am Rande des Waldes von Fontainbleau niedergelassen hatte und wegbereitend für den Impressionismus werden sollte.

 

Doch Carls Arbeiten, so sehr sie Natur als vertraute zeigen, geben mehr und anderes zu sehen. Ihnen eignet etwas von jenem visuellen Überschuss, von dem eingangs die Rede war. Er wird wahrnehmbar zunächst in atmosphärischen Zwischentönen, die diese Arbeiten nuancenreich umspielen. Versuchen wir den Abstand zur älteren Landschaftsdarstellungen auszumitteln, so lässt sich vor allem feststellen, dass Carl die Natur weder als topographische Illustration noch als genrehaftes Ambiente begreift. Was sie in und durch die Natur hindurch sieht, in der stets auch der Mensch da ist, ist nicht das vordergründig Faktische. Sie sieht in ihr etwas anderes, weil größeres und deshalb die Natur wie selbstverständlich Tragendes: die Erde. Sie ist in ihren Arbeiten die hinter- und untergründig Wirkende Instanz. Vor allem sie ist gemeint mit dem mächtigen Block, auf dem die Ausschnitte der Natur erscheinen.

 

Mit den Plastiken eröffnet Carl stets eine kleine Welt und stellt diese zugleich zurück auf die Erde, die in diesem Akt selbst erst als heimatlicher Grund des Menschen herauskommt. All dies aber wäre nicht möglich, gäbe es da nicht noch eine letzte, unverzichtbare Größe, eine andere Kraft, die den Plastiken ihr Dasein und ihre Sichtbarkeit gewährt: der Raum – oder poetischer gesagt und damit an den Titel der Ausstellung erinnernd: der Himmel. Unter diesem freien Himmel stehen Carls Werke, der so offen und frei ist, wie ihn die Phantasie und Einbildungskraft des Betrachters zu sehen vermag.

 

PD Dr. Axel Müller, Frankfurt

 

Katalogtext zur Ausstellung „Unter freiem Himmel“, Kloster Fürstenzell bei Passau, 2005